Archaische Moderne Künstlerleben
Andrea Matheisen– Ein Portrait von Mona May

Im Interview erzählt sie nicht viel über sich und doch schwingt in diesem wenigen, das sie preisgibt, ein tiefes und fundiertes Wissen über die Höhen und Tiefen des Lebens und über das vielgestaltige Wesen der Welt mit. Die Künstlerin, die ich Euch heute im Rahmen meines „Goethe ist tot – wir leben“ Projektes vorstellen darf, ist Bildhauerin und Malerin.

Worte der Stille

Sowie sich Andrea Matheisen scheinbar in Schweigen hüllt, so scheinen auch ihre Figuren zu schweigen, aber dieses Schweigen ist nicht stumm. Ganz und gar nicht! Es ist ein beredtes Schweigen, das den Betrachter oder die Betrachterin zwingt, genauer hinzuhören oder besser gesagt genauer hinzusehen und hinzuspüren. Wem dies gelingt, der oder die wird reich beschenkt werden und wird in Welten eintauchen dürfen, die nur hinter der Oberfläche warten und erfahrbar sind und niemals vordergründig zu erkennen oder zu erfassen sind.
Denn die Künstlerin geht nicht nur mit Worten sparsam um, ihr ist vor allem die Koketterie mit Oberflächlichkeiten fremd, wiewohl sie manchmal die Oberflächen ihrer Objekte mit massivem Körpereinsatz bearbeiten muss, um aus ihnen das herauszuholen, was wir dann geschenkt bekommen: Abbilder des Lebens, die der verlebendigte Ausdruck von Erfahrungen und Träumen, von Visionen und Hoffnungen sind.

Bronzener Reigen

Manchmal habe ich das Gefühl, als würden ihre Figuren tanzen, als würden sie einen Tanz der göttlichen Verheißung tanzen – einen Lebenstanz. Und dabei haben diese zarten und feingliedrigen Figuren eine Kraft und Ausstrahlung, die magisch zu nennen ist. Je mehr ich mich in ihre Arbeit vertiefe und mich darauf einlasse, umso mehr ziehen sie mich in ihren Bann, die Bronze-Figuren von Andrea Matheisen. Einige ihrer Figuren scheinen mir ihre Hand zum Gruß entgegen zu strecken, sodass ich fast schon versucht bin, diese zu ergreifen und zu schütteln. Andere Figuren wiederum strecken sich zum Himmel empor und stehen wie Bäume da, bei anderen hingegen sieht es aus, als hätten sie schwere lehmige Füße und doch verjüngen sie sich nach oben hin zu einem filigranen Wesen oder zu einer durchscheinenden Elfe. Ob sie sich nun bücken, sich nach hinten beugen, in einer balletteusen Pose, wie in einer Arabesque oder einer Attitude verweilen, eine Mütze auf dem Kopf tragen, aneinander geschweißt sind, sich drehen oder sich mit einem Gegenstand abschleppen, immer sind sie mehr als bloß Figuren aus Bronze.

Poetische Bildsprache

Selbst die Namen beziehungsweise die Titel, die diese lebendig scheinenden Wesen aus Bronze tragen sind pure Poesie. Da sind klanghafte Wortkombinationen wie „SEI VOGEL, SEI FREI“ oder „WHISPERER OF LIVE“ und „WENN DU FRIEDEN WILLST, SPRICH NICHT VOM KRIEG“ und unzählige mehr zu lesen. Sie alle unterstreichen nicht nur das Gesehene, sondern evozieren ein ganz eigenes emotionales beteiligt sein der Rezipienten. So ergeht es mir auch mit ihren Gemälden, die mich immer wieder tief berühren und die ganz groß in ihrem Ausdruck, in ihrer Kraft und in ihrer Stille sind. Selbst das Hässliche und Grausame bekommt ein versöhnliches Gesicht, ohne dass es ästhetisiert werden würde.

Das hat etwas sehr Beruhigendes, etwas Entspannendes. Gerade in einer Welt, die vor Feindseligkeit und Schmerz nur so strotzt, tut das unendlich gut. In ihren Arbeiten ist nichts Kompliziertes, Verqueres oder Verkopftes, da fließt das Werk und der Ausdruck direkt aus dem Herzen in die Hände, die das Material dann formen oder gestalten. Es ist alles von vollendeter Schlichtheit und von einer fesselnden Schönheit die nur von einem wahrhaften Genius, von einer großen Künstlerin erschaffen werden können.

Anfänge

Aber lassen wir nun Andrea Matheisen, die 1956 in Essen geboren ist, selbst zu Wort kommen. Als erstes interessiert mich, wie sie denn aufgewachsen ist: „Mein Geburtshaus war ein rotes Backsteinhaus mit angrenzender Obstwiese. Bald nach meiner Geburt zogen wir in ein kleines Dorf mit fünfhundert Seelen. Im Garten hatte ich eine Schaukel, auf der ich träumen und bis in den Himmel schaukeln konnte.“

„Hattest du Geschwister und wie waren deine Eltern?“ will ich von ihr wissen. „Ja,“ antwortet sie, „ich habe zwei ältere Geschwister und da meine Eltern ein großes Modegeschäft mit internationalen Modemarken besaßen, das sie sehr persönlich führten, lebten wir in einer weltoffenen Welt. Wir sind also in einem sehr kreativen Haushalt mit vielen Veränderungen aufgewachsen und waren voller Neugierde.“

Aus der Quelle schöpfen

Nach einer kurzen Pause erzählt sie weiter: „Meine Mutter war Kunsthistorikerin. Von ihr habe ich die Sehnsucht nach der Stille erlernt, während ich von meinem Vater den Sinn für klare Gedanken lernte. Von meiner Großmutter erlernte ich die Kreativität – sie beschäftigte sich auch mit Bronzearbeiten – und die Bodenständigkeit. Und aus den Zwängen, die auf mich einwirkten, gewann ich die Freiheit.“

„Wann hast du dann bemerkt, dass es dich zu Kunst, speziell zur bildenden Kunst zieht?“, lautet meine nächste Frage. Und ihre Antwort wundert mich in keinster Weise: „Kreativität und geistige Freiheit gehörten schon immer zu meinem Leben, wie eine Quelle zu einem Fluss. Sie sind mein Lebensweg und es gab und gibt keine Alternative dazu. Ich bin Künstlerin, was könnte und wollte ich daher anderes sein?“ „Gibt es Vorbilder oder Lehrer_innen, die dich prägten oder die sehr wichtig für dich und deinen Lebensweg waren?“ „Während meines Mode-Design-Studiums an der Hochschule für Design in Pforzheim, freundete ich mich auf kameradschaftlicher Basis mit dem um vierzig Jahre älteren Designer und Professor Heinz Oestergaard an. Er ist 1916 geboren und leider schon 2003 verstorben. Von ihm lernte ich sehr viel über das Leben und die Kunst. Ich bewunderte ihn sehr, und dass ich so lange Zeit freundschaftlich mit ihm verbunden sein durfte, das ist für mich eine große Ehre.“

Schnörkellos

Egal, ob sie als Bildhauerin mit Bronze und als Malerin mit Öl arbeitet oder als Schöpferin der von ihr kreierten Kleiderpoesie mit Kaschmir und Seide, in jedem dieser Tätigkeitsfelder sucht Andrea Matheisen die Vielseitigkeit und die Tiefe der menschlichen Psyche zu ergründen. „Mir fällt auf, dass deine Arbeiten ohne große Schnörkel auskommen und deine große Geste die Geste der Schlichtheit ist, sehe ich das richtig?“, frage ich sie als Nächstes. „Ja, ich beobachte Menschen in ihrer Wesensart und setzte das Beobachtete in greifbare und figürliche Formen um und bringe es so in meiner künstlerischen Arbeit zum Ausdruck. Die Kunst liegt darin, der Versuchung zu widerstehen, der auf das Wesentliche reduzierten Form etwas hinzuzufügen. Archaische Typen weisen durch überdimensionierte Füße auf ihre Bodenständigkeit hin. Sie regen durch die Klarheit ihrer Urform das Unterbewusstsein des Betrachters oder der Betrachterin an: zum Träumen, zum Nachdenken, zum Lächeln und um eigenen Visionen nachzuhängen. So kommunizieren sie und haben sie eine Seele.“

Mit dem Leben, für das Leben

Dann frage ich sie: „Ist dein Kunstschaffen ein Instrument, um der Welt deine Ansichten mitzuteilen oder gibt es eine besondere Botschaft, die du mit deinen Werken vermitteln möchtest?“ Und sie antwortet: „Es wäre schön, wenn ich mit und durch mein Schaffen erreichen könnte, die Welt eines Tages ein bisschen positiver zu verlassen, als ich sie vorgefunden habe. Hierzu stelle ich während meiner Arbeit – und oft nicht nur dann – meine Träume über die Vernunft. So gelingt mir eine Darstellung von unsichtbarer Realität, die dort anfängt, wo Kreativität und Emotionen beginnen. Anfügen möchte ich, dass ich meine Arbeit nicht als Arbeit empfinde und dass sie nicht nur ein Ausdruck der Intensität des Lebens, sondern auch eine Verneigung vor ihm ist.“

Rund um die Welt

Die Liste ihrer Ausstellungen ist Respekt einflößend und so frage ich sie nach den für sie bedeutsamsten. Es erwartet mich eine typische Andrea Matheisen Antwort: „Jede meiner Ausstellungen ist mir wichtig! Der Publikumspreis, den ich 2018 bei der Ausstellung „Truderinger Kunsttage“ bekommen habe ist mir ebenso wichtig, wie die nationalen und internationalen Ausstellungen, an denen ich seit Jahren teilnehme. Egal ob in Deutschland, England, Schweiz, Österreich oder in Italien bei der Biennale Florenz oder heuer im Metropolitan Museum of Art in Japan in Tokio – für mich sind alle Ausstellungen sehr intensiv und interessant. Ich lebe von und für meine Kunst und ich bin allen, die dazu beitragen, dass das so ist und mich unterstützen, sehr, sehr dankbar. Aber ich gebe auch Bronze-Kurse hier in Deutschland, 2019 habe ich in Ägypten welche gegeben, das war sehr schön. In diesem Jahr werde ich in Indien Kurse geben können, das empfinde ich als sehr große Bereicherung und Ergänzung zu den Ausstellungen. Ich bin auch sehr froh darüber, dass ich meine Kunst in ein soziales Projekt für Nepal hilfreich integrieren kann. Dieses Non-Profit–Projekt „Medicine and Education“ liegt mir sehr am Herzen.“

Familiärer Rückhalt

Die Faszination, die von Andrea Matheisens Persönlichkeit und ihrer Kunst ausgeht, hätte mich beinahe vergessen lassen, dass es da vielleicht auch noch andere wichtige Bereiche und Aspekte in ihrem Leben gibt – ein Privatleben zum Beispiel. Also frage ich vorsichtig nach, in der Hoffnung, dass die Künstlerin uns einen kleinen Einblick gewährt. Mich an das Thema herantastend frage ich sie: „Was bedeuten dir die Begriffe Familie und Heimat?“

Ihre kurze und klare Antwort lautet: „Beides habe ich tief in meinem Herzen verwurzelt.“ Und nach einer kurzen Pause erzählt sie dann doch noch ein wenig mehr: „Durch das über dreißigjährige Zusammenleben mit meinem Mann, habe ich gelernt zu vertrauen. Der ständige Austausch mit meinen drei erwachsenen Kindern erfüllt mich mit Freude und dadurch fühle ich mich von Leichtigkeit umgeben. Von meiner Familie bekomme ich jede Unterstützung und jeden Respekt, den ich für meine Arbeit brauche. Dafür bin ich ihnen allen sehr dankbar, denn ich weiß, dass das nicht immer und überall so selbstverständlich ist.“

Zukunftsmusik

„Wie ist deine augenblickliche Lebenssituation, welche Hoffnungen, Ambitionen und Ziele hast du?“ „Wir leben in einem stillen, abgelegenen Häuschen, nicht weit vom Wald entfernt, das ist mein Rückzugsort. In unserem verwachsenen Garten steht wieder (m)eine Schaukel. Ich pflege die Meditation, dadurch lebe ich sehr intensiv und achtsam und habe einen guten Zugang zu dem Potential meines Herzens und meines Geistes. In der heutigen, eher kurzlebigen und oberflächlichen Zeit bin ich voller Zuversicht und Gelassenheit und leiste mir auch den Luxus des Nachdenkens.“

Ich warte, ob sie vielleicht noch ein wenig mehr preisgeben will. Das will sie aber nicht, also stelle ich meine letzte Frage: „Was sind deine Ziele, was möchtest du noch erreichen, gibt es Pläne für die Zukunft?“ „Oh ja, ich habe sehr viele Ideen für die Zukunft. Neben der Bildhauerei und Malerei beschäftige ich mich aktuell besonders intensiv mit dem Aufbau eines Skulpturengartens, den ich „Garten der Phantasie“ nenne, er wird an mein Atelier angrenzen. Dann arbeite ich momentan mit edlen Stoffen aus Kaschmir und Seide für mein Projekt „Kleiderpoesie“, dabei ist die richtige Mischung und Zusammenstellung sehr wichtig.“

Langeweile dürfte ein Fremdwort für Andrea Matheisen sein, die vor Ideen nur so übersprudelt und die uns sicher noch mit vielen Projekten erfreuen wird. Ihre jugendliche Frische hat sie – da bin ich mir absolut sicher – ihrer überbordenden Kreativität und ihrem weisen Geist zu verdanken. Ein Gegensatz, der sich in ihrer Person wunderbar ergänzt und der nicht nur ihr, sondern auch ihren Werken, neben ihrer faszinierenden Ausstrahlung eine Lebendigkeit und Tiefe verleiht, die äußerst rar sind.

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