Heiteres Grundwie des Lebens selbst

Wie bei jeder guten Kunst beginnt auch die Begegnung mit den Bronzen von Andrea Matheisen mit einer Irritation. Es sieht ein bisschen so aus wie bei Giacommetti, aber doch ganz anders. Etwas stimmt nicht.

Die Arme der Figuren sind zu lang, die Hälse und Beine ebenso und die Füße sind zu groß. Oder ist der Oberkörper zu kurz, der Kopf zu klein? Wir wissen es nicht und wundern uns und staunen.

Mit diesem Erstaunen antworten wir auf eine Plastik, die unseren Blick auf sich zieht und uns anspricht. Fast scheint es so, als blickten nicht wir die Statue an und sie blickte zurück, sondern als habe sie zuerst geguckt und wir erwiderten nur einen Blick, der immer schon auf uns gerichtet war – ja, als habe sie auf uns gewartet.

Die Figur tritt uns so wie ein Subjekt in einem Dialog gegenüber. Und sie nimmt im Verhältnis zu uns eine erhobene Position ein. Denn wir können die verlängerten Gliedmaßen nur dann in einen konsistenten Gesamteindruck bringen, wenn wir die Figur so anschauen, als wäre sie uns in Untersicht gegeben. Indem wir so zu der Figur aufblicken, erscheint uns ihr Manierismus als etwas Positives. Wirkt doch ihre Disproportionalität nicht als Übergewicht der Form über den Inhalt, wie oft beklagt worden ist, sondern als inhaltliche Bestimmung der Plastik selber. Sie ist ganz grundsätzlich auf einen Betrachter bezogen. Das drückt ihre Manier aus. In dieser Beziehung auf uns erscheinen die Figuren leicht und beweglich. Sie entbehren der statuarischen Starr- und Kompaktheit, zugunsten eines freien Körperrhythmus und spielerischer Agilität. Sie wirken ungezwungen und fidel. Und so spiegelt die formale Disproportion ihrer Gestalt kein psychologisches Missverhältnis im Charakter, wie es dem manierierten Menschen als „Heimatlosigkeit, Weltunsicherheit und Bedrohtheit der Existenz“ nachgesagt worden ist, sondern das Gegenteil: Bodenständigkeit, Lebensfreude und Optimismus – ein heiteres „Grundwie des Lebens selbst“.

Dr. Björn Vedder

Vgl. Gerhard Regn, „Manierismus: Kritik eines Stilbegriffs“, in: Bernhard Huss, Christian Wehr (Hg.),
Manierismus. Interdisziplinäre Studien zu einem ästhetischen Stiltyp zwischen formalem Experiment und historischer Signifikanz, Heidelberg 2014, S. 19-46.
Ludwig Binswanger, Drei Formen des missglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit.
Ausgewählte Werke, Bd. 1, Heidelberg 1956, S. 239.
Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Gesamtausgabe, II. Abteilung:
Vorlesungen, Bd. 61, 2. durchges. Aufl. 1994, S. 80 (Vorlesung Wintersemester 1921/22).